Die Wolken von Sils Maria

Plakat

Originaltitel: Clouds of Sils Maria

Laufzeit: 124 Minuten

FSK: ab 6 Jahren

Besetzung: Juliette Binoche, Kristen Stewart, Chloë Grace Moretz, Hanns Zischler, Lars Eidinger

Regie: Olivier Assayas

Ab dem 18. Dezember in den Lichtspielhäusern.

 

Maria Enders (Juliette Binoche) ist auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, als die Schauspielerin gefragt wird, ob sie in einer Neuinszenierung des Theaterstücks „Maloja Snake“ mitspielen möchte. Mit diesem Stück begann vor genau 20 Jahren ihre Karriere, als sie in der Verfilmung desselben die Sigrid spielte, eine verführerische junge Frau, die ihre ältere Vorgesetzte erst verführt und dann in Wahnsinn und Selbstmord treibt. Problem: Nun soll Maria die Helena geben, also die künftige Selbstmörderin. Erst unschlüssig, kann Regisseur Klaus Diesterweg (Lars Eidinger) sie schließlich überzeugen. Also packt Maria ihre Siebensachen und reist samt persönlicher Assistentin Valerie (Kristen Stewart), genannt Val, ins Schweizer Engadin, wo „Maloja Snake“ dereinst geschrieben wurde, um sich für die Rolle vorzubereiten. Und während im Rahmen der Proben (natürlich mit Val als Sigrid) reale Personen und Rollen mehrfach zu verschwimmen scheinen, trifft Maria nicht nur auf ihre Quasi-Nachfolgerin als Sigrid, das Hollywood-Starlet Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz), sondern auch auf ein ganz besonderes Wetterphänomen, nämlich die „Maloja-Schlange“. Und ja, werter Leser, der Bezug zum Titel des neuaufgelegten Theaterstücks ist nicht zufällig.

Szenenbild 1

Alte Darsteller sehen junge Pendants ihrer ersten Rollen – ein klein wenig erinnert „Die Wolken von Sils Maria“ an „Ihr werdet euch noch wundern“, einen der letzten Filme des wundervollen Alain Resnais.  Und ähnlich wie Resnais schafft es auch Olivier Assayas, hier einen Film abzuliefern, der irgendwie… europäisch daherkommt. Also, kontinentaleuropäisch. Vielleicht auch einfach nur klassisch französisch, wobei, nein, das trifft es irgendwie nicht so richtig. Vielleicht probieren wir es doch lieber mit einem anderen Ansatz: Er ist sowas von nicht aus Hollywood.

Denn „Die Wolken von Sils Maria“ ist kein handelsüblicher Film. Er kümmert sich wenig um die Belange des Zuschauers: Niemand holt uns ab oder nimmt uns an die Hand, es gibt wenig, mit dem man sich identifizieren könnte und auch kaum etwas zum Mitfiebern.  Selbst optisch wird einem nichts wirklich Beeindruckendes geboten (von der vereinzelt hübschen Landschaft einmal abgesehen). Trotzdem ist der Film schlichtweg toll. Warum? Weil er zum Nachdenken anregt wie kein Zweiter.

Denn alles in diesem Film wirkt hochreflektiert und doppelbödig. Mindestens doppelbödig. Meistens sogar scheint alles auf wenigstens drei Ebenen zu funktionieren. Das beginnt schon mit den Figuren: Sind sie rein fiktive Projektionsflächen, Anspielungen auf reale Personen, die der Zuschauer erraten darf, oder sind sie bereits die Analysen prototypischer Charaktere?  Fast die gleichen Fragen darf sich der Zuschauer auch in Hinsicht auf die Handlung stellen, etwa wenn unsere Heldin und ihre Assistentin den aktuellen „Superheldenfilm“ von Jo-Ann Ellis betrachten: Ist das, was beide sehen, eine unverhohlene Parodie auf die X-Men-Filme, analysiert Assayas hier die Funktionsweise von Big-Budget-SciFi-Streifen oder dient der ganze Aufwand schlicht der Charakterisierung von Marias Quasi-Nachfolgerin? Vielleicht ist die Szene aber auch einfach nur ein Vorwand, der gewohnt adretten Nora von Waldstätten für ihre Mini-Nebenrolle ein hübsch spaciges Outfit zu verpassen. Aber wir lassen uns ablenken.

Szenenbild 2

Andererseits, wo wir schon bei den Darstellern sind, können wir auch ein paar Worte dazu verlieren. Denn hier gibt es tatsächlich nur Positives zu vermelden: Nicht nur spielt Juliette Binoche selbstredend toll, auch die jüngeren Haupdarstellerinnen leisten Erwähnenswertes. Vor allem untermauert Chloë Grace Moretz weiterhin den Verdacht, eine der besten der aufstrebenden amerikanischen Jungschauspielerinnen zu sein. Und auch Kristen Stewart erweist sich als zumindest perfekte Besetzung für die Rolle einer persönlichen Assistentin und spielt großartig normal. Das mag daran liegen, dass sie wenig zu tun hat und vollkommen innerhalb ihrer darstellerischen Bandbreite bleiben kann, doch irgendwie beginnt man so langsam, sich auf die Zeit zu freuen, in der es wieder out sein wird, gegen sie zu frotzeln. Selbstverständlich wissen aber nicht nur die Hauptdarsteller zu überzeugen, auch der Rest des Ensebles ist passend besetzt und spielfreudig. Eine kleine Extraerwähnung verdient sich dabei Hanns Zischler, der mit seinem Henryk Wald bravourös einen Darsteller mimt, der„umso besser ist, je weniger er versteht“. Eine etwas gemeine Rolle, aber die Realität ist manchmal halt ein wenig fies.

Und wenn wir dann endlich zur eigentlichen Handlung kommen, stoßen wir auch noch auf eine Meta-Ebene mit Schauspielern, die Schauspieler darstellen, die über den Sinn von Schauspiel sowie Theater und Film allgemein diskutieren. Überhaupt wird in „Die Wolken über Sils Maria“ so herrlich viel diskutiert. Sei es das fiktive Theaterstück, in dem Maria einst spielte und nun wieder spielen soll, das aus immer neuen Perspektiven betrachtet wird und immer wieder anders nach Inhalt und Aussage abgeklopft wird. Sei es die Wirkung des Alters auf Maria und ihr Spiel, über die sie immer wieder aufs Neue reflektiert. Sei es im Zweifelsfall auch nur die köstliche Diskussion darüber, inwiefern ein Mainstream-SF-Spektakel (auf das wir ja schon anspielten – ja, genau, das mit Nora von Waldstätten) ernsthafte Rückschlüsse auf das Können einer Aktrice zulässt. Aber auch jenseits der Dialoge finden sich viele Ansatzpunkte für den nachdenklichen Zuschauer. Vieles im Film ist mit Bedeutung beladen und nur wenig wird explizit erklärt, was natürlich einiges an Interpretationsspielraum ergibt. In „Die Wolken von Sils Maria“ werden letztlich so viele Themen so hochgradig reflektiert und analytisch behandelt, dass man als Zuschauer kaum am Mitdenken vorbeikommt. Vor allem auch, weil der Film einen stets auf Distanz zu halten scheint, nie wirklich mit sich zieht, den Zuschauer weder mit seinen Figuren mitleiden lässt noch mit seiner Handlung oder seiner Optik packen will (womit sich diese einleitend als Schwächen erwähnten Aspekte schließlich als tolle Idee erweisen). Diese Art des Erzählens ist selten, ja, geradezu kostbar und das absolute Gegenteil von dem, was wir aus Hollywood gewohnt sind. Aber sie muss sich auch den Vorwurf der Verkopftheit gefallen lassen, denn im Umkehrschluss bedeutet das natürlich, dass man auch Lust dazu haben sollte, über all die angebotenen Themen nachzudenken. Ein bisschen wie bei „Transcendence“ sollte sich der Zuschauer also vorab bewusst sein, dass der Film einem eher was fürs Hirn als fürs Herz serviert. Und gerade dadurch dann doch meisterlich mitzureißen versteht.

Szenenbild 3
Fazit:
Er mag verkopft sein, doch ist er es im besten Sinne des Wortes: Ein Film wie „Die Wolken von Sils Maria“ ist eine Kostbarkeit, wie sie nur alle paar Jahre daherkommt. Eine wundervolle Einladung zur Reflexion über Kino und Schauspiel, die in den angesprochenen Themen von beeindruckender Zeitlosigkeit ist. Ein Film, der vielleicht nicht zum Mitfiebern, aber dafür zum Mitdenken verleitet wie sonst keiner in diesem Jahr.  9/10 Punkte.
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Über den Author:

MartinLiebt das Kino als natürlichen Lebensraum großartiger Filme, wobei „großartig“ für ihn all das ist, was das Hirn zermartert oder das Herz zerreißt – jeweils im Guten wie im Schlechten und gern auch beides auf einmal. Schwärmt derzeit am liebsten über „Irresistible – Unwiderstehlich“, „The Hunt“ und „Violet Evergarden und das Band der Freundschaft“ – außerdem immer wieder gern über „Weitermachen Sanssouci“ und „One Cut of the Dead“.Zeige alle Artikel von Martin →